Sprache ist Mythos

Mit diesem fünften Artikel schließe ich die Serie über die von W.F. Otto dargestellte Weltanschauung und Götterwelt der Antike ab. Im Folgenden geht es darum, dass Sprache in ihren Grundlagen mythisch ist. Das bedeutet, sie ist nicht in erster Linie ein Werkzeug, womit Menschen eine vorhandene Welt und die Dinge in der Welt bezeichnen. Sondern sie ist ursprünglich ein schöpferischer Prozeß, in dem die Welt als Ganzes und die Einzeldinge in ihr erst wirklich und lebendig werden.

W.F. Otto widerspricht der gängigen Auffassung, dass Sprache aus einem primitiven Mitteilungsbedürfnis der Menschen untereinander entstanden ist. Denn für eine rudimentäre Verständigung ist keine komplexe menschliche Sprache nötig. Dafür reichen einfache Gesten und Laute, wie sie die Tiere gebrauchen, völlig aus. Die Frage nach ihrem Ursprung wird dadurch also nicht befriedigend beantwortet. Läßt er sich vielleicht eher in einem ästhetischen als funktionalen Grund finden?

Im antiken Griechenland war die Aussprache melodisch. Die betonte Silbe wurde in höherer Stimmlage ausgesprochen und nicht durch höhere Lautstärke betont. Die sich daraus ergebende rhythmisch-musikalische Qualität spricht mehr für eine künstlerische Orientierung als für funktionale Zweckgerichtetheit. Dichtung, wie jede schöpferische Tätigkeit, zeichnet sich dadurch aus, dass sie um ihrer selbst willen geschieht und nicht wegen irgendeinem anderen Zweck. So ist auch die Sprache um ihrer selbst willen entstanden.

W.F. Otto vergleicht die Entstehung der Sprache mit einer Kunstschöpfung, die mit ungeheurem Enthusiasmus in die Welt tritt und von großartiger Inspiration zeugt. Der Künstler erzeugt nicht selbst willentlich ein konkretes Werk, sondern wird von etwas außer ihm Liegendes inspiriert. So riefen schon Homer, Hesiod und andere antike Dichter die Muse (Μοῦσα) an, damit sie ihnen die Wahrheit offenbare, d.h. im altgriechischen Sinne, sie die Unverborgenheit sehen lasse.

Die neun Musen

Die 9 Musen mit ihren Attributen (Bildnachweis)

Das Kunstwerk entstand ursprünglich nicht als Abbildung und nicht in dem Bestreben einen Nutzen zu erzielen. Auch der Kultus war kein magischer Akt, um einen persönlichen Zweck zu erreichen, wie er meist interpretiert wird (gemäß dem modernen Nützlichkeitsdenken). Sondern die Dinge selbst kommen auf den Künstler zu, um ihn auf großartige Weise zu inspirieren. Und in seiner Schöpfung wird das Sein des Gegenstandes offenbar, tritt selbst gestalthaft in Erscheinung.

"Die sogenannte Abbildung ist nichts anderes als das Ding selbst in vollem Glanz seiner Wahrheit. In dem, was wir Bild nennen, ist das Sein selbst gegenwärtig. Darum kann man unter anderem auch zaubern damit." (W.F. Otto, Die Sprache als Mythos)

Wie ist es möglich, dass mit der Sprache nicht nur gedacht und gesprochen werden kann, sondern dass das Sein der Welt darin tatsächlich gegenwärtig ist? Das widerspricht völlig dem modernen Verständnis, nach dem mit der Sprache etwas über etwas ausgesagt werden kann. Sprache wird heute meist als System von Zeichen verstanden, womit die Welt und die Dinge in ihr beschrieben, kategorisiert und benannt werden können. Aber das Sein selbst in der Sprache?

Natürlich stecken nicht die Dinge in ihrer uns gewohnten Erscheinung in der Sprache, sondern in einer Art, die Otto Rhythmus nennt. Er umschreibt es auch als eine Art Aura, die jedes Ding umgibt und die das Wesen des Dinges ausmacht.

Sprache ist Rhythmus und alles Seiende gründet im Rhythmus (was auch viele Dichter, z.B. Hölderlin, formuliert haben). Im Wort sind die Dinge mit ihrem höheren Sein gegenwärtig. Der Mensch ist der Hörende, wenn er diesen Rhythmus wahrnehmen kann. Und der Hörende ist der Dichter, wenn er das von der Muse Gesungene und Gesagte vernimmt und ihr durch seine Stimme Ausdruck verleiht.

Im letzten Artikel Mensch und Gottheit in der Antike schrieb ich, dass die Götter den Menschen brauchen, um ins künstlerische Werk gesetzt zu werden. Genauso braucht die Sprache den Menschen, um ausgesprochen zu werden. Sie entspringt dem göttlichen Rhythmus aller Dinge, dem das gottverwandte höhere Sein des Menschen begegnet. Sprache ist das Göttliche, dort findet es seine höchste Form.

Bildnachweis: Sarcophagus known as the "Muses Sarcophagus", representing the nine Muses and their attributes. Marble, first half of the 2nd century AD, found by the Via Ostiense. Foto von Jastrow, Public domain