Wie übersetze ich einen altgriechischen Text?
Vor einiger Zeit war ich unzufrieden, weil ich ziemlich lange brauchte, um altgriechische Texte zu übersetzen. Das brachte mich zu der Frage, wie ich beim Übersetzen vorgehe und was ich effektivieren kann.
Abgesehen davon, dass es einfach regelmäßige Übung braucht, sind mir ein paar Methoden aufgefallen, die den Prozeß beschleunigen. Vor allem hilft es mir, das Ganze eines Satzes zu erfassen, statt am einzelnen Wort hängen zu bleiben. Das bessere Verständnis (auch von dem, was ich nicht verstehe) wiederum motiviert zum Weiterlernen.
- Zuerst geht es darum, das Satzende zu finden.
Bei sehr langen Sätzen nehme ich auch den Hochpunkt als Ende, der dem deutschen Semikolon entspricht, sonst den Punkt bzw. das Fragezeichen (;). - Dann übersetze ich zuerst - ohne im Lexikon nachzuschlagen - das, was ich an Vokabeln weiß. Über einzelne Unsicherheiten (Bedeutung oder Form) gehe ich bei diesem ersten Durchgang hinweg. (Ich versuche das zumindest, um mich nicht zu schnell in den Einzelheiten zu verfusseln. ;)) Dieses Vorgehen hat den Vorteil, dass ich erstmal einen groben Überblick gewinne, worum es geht. Durch den Kontext lösen sich manche Unklarheiten im Gehen. Ich habe auch den Eindruck, dass ich dadurch Muster besser erkennen kann (weil ich eben nicht so auf das Detail fixiert bin), z.B. unbekannte Wörter aufgrund ihrer Ähnlichkeiten zu bekannten erschließen kann. Und als dritte positive Wirkung habe ich festgestellt, dass ich schneller bemerke, wo Schwierigkeiten liegen, und kann so gezielter lernen. Mangelt es an Vokabelwissen? Kann ich die Formen nicht bestimmen? Oder fehlt es am Verständnis der syntaktischen Strukturen?
- Tipp: Wort für Wort übersetzen und dabei die griechische Wortstellung beibehalten. Ich habe in irgendeinem Grammatikbuch gelesen, dass dieses Vorgehen das Sprachgefühl für das Altgriechische verbessern soll.
- Tipp: Laut oder innerlich vorlesen. Beim Vorlesen erinnere ich mich manchmal aufgrund des Klanges wieder an eine Vokabelbedeutung, die ich beim rein visuellen Lesen im Lexikon hätte nachschlagen müssen.
- Tipp: Übersetzung aufschreiben. Wenn ich eine Übersetzung aufschreibe, dann muß ich mich für eine konkrete deutsche Formulierung entscheiden. D.h. ich muß aus einer Fülle von Möglichkeiten die beste auswählen. Solange ich nur im Kopf übersetze, bleibt die Formulierung ungenau oder unschön.
- Wenn ich alle fehlenden Vokabeln nachgeschlagen und alle Flexionsformen bestimmt habe, und der Satz immernoch eine bloße Aneinanderreihung von Wörtern ohne Sinn ergibt, liegt das Problem in der syntaktischen Struktur. Dann ist es ratsam vom finiten Verb des Hauptsatzes auszugehen, dem man das Subjekt und ggf. erforderliche Objekte zuordnen kann.
- Tipp: Zusammenhängende Wortgruppen markieren und strukturierende Partikel kennzeichnen. Das ist zum einen eine Hilfe, wenn der Text schwierige Konstruktionen enthält. Zum anderen ist es eine gute Übung, um den Blick für typisch altgriechische Sprachmuster (AcI, Genitivus absolutus usw.) zu schulen. Z.B.:
Τί ἂν οἴει ἐν τούτῳ τῷ κακῷ ἀποληφθέντα ἰατρὸν ἔχειν εἰπεῖν;
Bei Verben des Sagens, Glaubens, Meinens, Erklärens (hier: οἴει) steht meist AcI.
ἂν und Infinitiv zeigt den Potentialis an.
Übersetzung: Was, glaubst du, könnte wohl ein Arzt zu sagen haben, der in dieser üblen Situation einzeln vorgenommen wird?
ἢ εἰ εἴποι τὴν ἀλήθειαν, ὅτι "Ταῦτα πάντα ἐγὼ ἐποίουν, ὦ παῖδες, ὑγιεινῶς," πόσον τι οἴει ἂν ἀναβοῆσαι τοὺς τοιούτους δικαστάς; οὐ μέγα;
Wieder οἴει mit AcI
Potentialis: εἰ mit Optativ, ἂν mit Infinitiv.
πόσον hängt mit μέγα zusammen, da beide im Akkusativ stehen
Übersetzung: Oder wenn er die Wahrheit sagte:"All dies tat ich, Kinder, für die Gesundheit," was glaubst du wohl, wie laut solche Richter aufschreien würden? Etwa nicht laut?
(Diese 2 Sätze sind aus dem Kantharos, Kap. 41, Platons Gorgias)
Soweit zu meinen Erfahrungen. Wie gehst Du vor, wenn Du einen Text übersetzen willst? Kennst Du Tricks, die Dir den Zugang zur altgriechischen Sprache erleichtert haben?